F. Pichon: Maaloula (XIXe–XXI siècles)

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Titel
Maaloula (XIXe–XXI siècles) du Vieux avec du Neuf. Histoire et Identité d’un village chrétien de Syrie


Autor(en)
Pichon, Frédéric
Erschienen
Beyrouth 2010: Presses de l’IFPO
Anzahl Seiten
288 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Andreas Schmoller, Fachbereich Geschichte Zentrum zur Erforschung des Christlichen Ostens, Universität Salzburg

Maalula, eines von drei syrischen Dörfern in dem heute noch Aramäisch, die Sprache Christi, gesprochen wird, zieht nicht nur Touristen in seinen Bann, sondern auch die Wissenschaft. Frédéric Pichon, der an der École Pratique des Hautes Études ein Diplom in Arabistik erworben hat, begann nach einer mehrjährigen beruflichen Tätigkeit in Beirut und zahlreichen Reisen auf den Spuren der orientalischen Christen (Diese fand ihren Niederschlag in der Publikation: Voyages chez les chrétien d’Orient, Paris 2006, auf dt.: Reise zu den Christen des Orients, Augsburg 2009.) sein Forschungsinteresse auf das idyllische Dorf Maalula, etwa 60 km nördlich von Damaskus gelegen, zu richten. In seiner 2009 verteidigten Dissertation, die im Jahr darauf vom Institut français du Proche-Orient in Beirut publiziert wurde, beleuchtet er den historischen Wandel des 5.000 Einwohner zählenden Dorfes. Auf 1.500 Meter im Qalamoun- Gebirge zwischen Karstfelsen eingeschlossen, hat neben dem aramäischen Dialekt auch die christliche Minorität die Jahrhunderte überdauert. Die Fremd- und Selbstwahrnehmung Maalulas als christliches Dorf und dessen tiefgreifenden ökonomischen und demografischen Transformationen zwischen dem 19. und beginnenden 21. Jahrhundert bilden die Grobarchitektur dieser Studie. Als Quellen dienen Pichon folglich lokale arabisch sprachige Quellen bzw. Zeitzeugen sowie westliche Reisedarstellungen und (pseudo)ethnografische Aufzeichnungen von westeuropäischen Wissenschaftlern und Missionaren.

Pichons Arbeit, die aus drei Teilen besteht, kann gewissermassen als Gedächtnisgeschichte gelesen werden, die Tradierungsprozesse diachron ausleuchtet. Quantitativ überwiegt der erste Abschnitt (31–106), der Maalula im Spiegel des Okzidents, konkret der Orientreisenden des 19. – und teils des 20. – Jahrhunderts, betrachten lässt. Der Ort bediente die Sehnsucht der modernitätsgeschüttelten europäischen Orientalisten nach der retour aux sources des Christentums. Die geografische Lage, die linguistische Besonderheit und die frühchristlichen Stätten St. Thekla Grotte samt Kloster sowie das Kloster St. Sergius und St. Bachus boten ideale Voraussetzungen für die Vorstellung des Orient immobile chrétien (90–106). Dass sich hinter dieser Faszination für das Ursprüngliche spezifisch westliche Projektionen verbargen, die auch das methodologische Vorgehen der Orientalisten prägten, zeigt nichts eindrücklicher als die «Erfindung» einer aramäischen Fassung des Vater Unser (97–102). Den ersten Versuch, aus dem Mund der Bewohner Maalulas eine Rezitation des Gebets, das Jesus der neutestamentlichen Tradition zufolge selbst – und somit auf Aramäisch – gelehrt hat, in der Urfassung einzufangen, wagte 1863 der presbyterianische Missionar Jules Ferrette. Die okzidentale Methodologie der retour aux sources traf dabei auf das Unverständnis der Autochthonen, die griechischorthodoxen und griechisch-katholischen Bekenntnisses waren bzw. sind. Beide gehören also der byzantinischen Ritusfamilie an, die als Liturgiesprache seit dem Mittelalter das Hocharabische verwendet, wenngleich aramäische Elemente in der Liturgie bis zum 18. Jahrhundert nachweisbar sind. Das Vater Unser auf Aramäisch gab es in Maalula folglich nicht. Die Abwehrhaltung der einheimischen Bevölkerung war insofern nur zu verständlich, umso mehr als sie ihre Sprache ausschliesslich oral gebrauchten und diese gegenüber dem Arabischen ein niedrigeres Sprachregister darstellte. Diese Konfrontation mit dem was im westlichen Konzept des kulturellen Erbes (patrimoine) enthalten ist, lagerte sich über Generationen hinweg im lokalen Langezeitgedächtnis ab.

Im Mittelteil der Studie – Maaloula ou «la fin d’un terroir». Économie et société d’un village à l’âge de la Révolution industrielle (107–168) spiegelt sich in einzelnen Punkten auch die nationale Geschichte Syriens wider. Der Autor gibt zu bedenken, dass bei aller Problematik von Zählungen die Christen Maalulas nur mehr im Sommer, wenn sich viele ins Exil abgewanderte Einwohner auf Heimaturlaub befinden, gegenüber den sunnitischen Muslimen eine Mehrheit bilden. Die Gründe für die Abnahme des christlichen Bevölkerungsanteils decken sich mit jenen, die für die Christen Syriens – deren Anteil aktuell auf ca. 7 Prozent geschätzt wird – und z.T. in anderen orientalischen Ländern gelten. Das tendenziell höhere Bildungsniveau korreliert mit einer sinkenden Geburtenrate und aufgrund der mangelnden wirtschaftlichen Perspektive einer erhöhten Abwanderung nach Damaskus bzw. Emigration. Politisch betrachtet bestand für die syrischen Christen kein Migrationsdruck. Sie genossen unter dem Assad-Regime religiöse Autonomie und pflegten die friedliche Koexistenz zwischen den religiösen Gruppierungen im laizistisch verfasssten Staat. All diese Zusammenhänge werden von Pichon gut verständlich und mit viel Zahlenmaterial und biografischen Beispielen versehen geschildert. Für ihn ist der mit der Grande Transformation einhergehende Verlust von Traditionen entscheidend.

Im letzten Teil des 3. Kapitels – La revitalisation de l’identité maaloulienne (195– 219) – schliesst sich gewissermassen der Kreis. Die Erwartungen und unbewussten Sehnsüchte der Orientalisten des 19. Jahrhunderts werden autonom von der lokalen Bevölkerung reaktiviert und zu Pfeilern einer neu erwachenden lokal-religiösen Identität. «[N]ous assistons à une mise en scène, une réinvention de l‘identité propre du village, linguistique mais aussi religieuse et rurale, qui s’appuie largement sur des schémas pensés par les orientalistes.» (199) Pichon verortet die (Re)konstruktion einer Lokalidentität seit den 1980er Jahren im Umfeld der Abnutzungserscheinungen des arabischen Nationalismus. Gleichzeitig gewährte die regierende Baath-Partei erstaunlich viel Freiraum in diesem Identitätsprozess. Die Betonung der aramäischen Kultur – nicht so sehr des frühchristlichen Erbes [!] – war der nationalen Geschichtsschreibung insofern willkommen, als diese dazu tendierte, die muslimische Periode zugunsten der früheren Hochkulturen auf dem Territorium Syriens zu minimieren und somit das Land als Kreuzungspunkt der grossen Zivilisationen der Menschheit zu stilisieren. In diesem laizistisch eingefassten Nationalnarrativ beinhaltete die Reaktivierung der aramäischen Sprache in Maalula alles andere als eine Reibungsfläche.

Als zentrales Momentum der Rückbesinnung identifiziert Pichon die bewusste Verknüpfung des frühchristlichen Erbes Maalulas mit der aramäischen Sprache. D.h. die Autochthonen generieren genau jenen kulturellen Konnex, der 120 Jahre zuvor von den Orientalisten «ersehnt» worden war. Die Schaffung dieser Verbindung verläuft wenig verwunderlich über Transkriptionen des Vater Unser ins Aramäische. Zwischen der ersten lokalen Übertragung 1990 und der Schaffung eines «Zentrums für aramäische Sprache » in Maalula 2007 liegt die Entwicklung eines touristischen Profils, das christliche wie muslimische (vor allem iranische Shiiten) Wallfahrer nach Maalula lockt. Die Befriedigung der Sehnsucht nach den religiösen Wurzeln findet in der ausschliesslich vom griechisch- katholischen Teil Maalulas angebotenen Rezitation des Vater Unser in der Sprache Jesu einen religionstouristischen Höhepunkt.

Maaloula (XIXe–XXI siècles) du Vieux avec du Neuf ist zusammenfassend gesagt nicht nur eine äusserst spannende kultur- und religionsgeschichtliche Studie mit starken Bezügen zur gegenwärtigen politischen Situation Syriens, sie verschafft dem Leser überdies ein differenziertes Verständnis für die Bildung und permanente Umformung eines lieu de mémoire in der berühmten Definition Pierre Noras. Wenngleich Pichon selbst diesen Begriff selbst nicht verwendet, so können aus seiner Arbeit Anregungen für die Erforschung religiöser Pilgerstätten im Sinne von Erinnerungsorten abgeleitet werden, v.a. was die Wahl der Quellen und die Verpflichtung auf eine Langzeitperspektive betrifft. Darüber hinaus eignet sich das Buch aber auch für interessierte Touristen und Pilger reisende zur Vor- und Nachbereitung eines Aufenthalts in Maalula, der hoffentlich in naher Zukunft wieder möglich sein werden. In Sha’Allah.

Zitierweise:
Andreas Schmoller: Rezension zu: Frédéric Pichon, Maaloula (XIXe–XXI siècles) du Vieux avec du Neuf. Histoire et Identité d’un village chrétien de Syrie, Beyrouth, Presses de l’IFPO, 2010. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 106, 2012, S. 719-721.

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